In der Türkei war der Staat nicht bereit, alle in der Gesellschaft vor rechter Gewalt zu schützen. Alles in diesem Text handelt von Walter Lübcke. Er kommt nirgends vor.
In vielen süd- und ostanatolischen Dörfern wurden bis in die späten 1980er-Jahre hinein, Häuser, in denen Aleviten wohnen, mit einem roten X gekennzeichnet. Die Häuser mit dem X wurden geplündert, die Bewohner geschlagen, mit Messern bedroht oder anderweitig terrorisiert. Ganze Straßenzüge wurden auf diese Weise gekennzeichnet und sollten die betreffenden Mitbürger verunsichern. Das X sollte sagen: „Du, deine Familie und dein Haus werden die Nächsten sein.“
Die Praxis der Kennzeichnung durch ein rotes X begann 1978 und ist bekannt als das Pogrom von Kahramanmaraş. Man spricht das hinten wie ein sch aus, also Kahramanmarasch. Es begann mit dem Mord an dem alevitischen Geistlichen Sabri Özkan, der von Rechtsradikalen im April getötet wurde. Das ist hier nicht der Ort, um umfassend über die Multikulturalität der Türkei zu referieren. Deshalb nur ein paar Stichworte.
Die türkische Bevölkerung ist insbesondere im Süden und Osten eine multiethnische und multireligiöse Gesellschaft. Es gibt Juden, Chaldäer, Katholiken, Sunniten und Aleviten und viele andere Konfessionen. Man spricht Aramäisch, Kurdisch, Zaza, Türkisch oder etwas anderes. Man feiert den Gottesdienst christlich-orthodox in einer Kirche oder singt alevitisch geistliche Lieder in einem Cem-Haus. Man ist Tscherkesse oder Kurde. Man trägt Kopftuch, egal ob man Armenier oder Türke ist, oder man lässt es. Das Christentum, das Judentum, der Islam und das Alevitentum, die Zaza und die Jesiden gehören alle zur Türkei.
Aleviten sind eine vorislamische Religionsgemeinschaft. Es gab sie schon vor den Muslimen. Weder beten sie in Moscheen, noch befolgen sie die fünf Säulen des Islams, sie haben eine eigenständige Theologie, die deshalb Repressalien, Stigmata und Angriffen ausgesetzt ist. Man betrachtet Aleviten wahlweise als religiöse oder politische Bedrohung. Mal gelten sie als Linksextreme, die den Staat bedrohen oder die Moscheen. Das Alevitentum beschreibt keine ethnische Zugehörigkeit. Nicht alle Aleviten sind Kurden. Das Alevitentum hat erst im Exil Lehrstühle einrichten können, um damit zu beginnen, die theologischen Grundlagen systematisch zu erfassen. Es ist wie mit dem Jesidentum und anderen verfolgten Religionsgemeinschaften. Jahrhunderte im Verborgenen praktizierte Glaubensgrundsätze werden aufgrund einer fehlenden übergeordnet wissenschaftlichen Erfassung der Riten und Bibliotheken von Mund zu Mund weitergetragen. Nur so können sie trotz Angriffen, Massakern und Vernichtung überdauern.
1978, die Türkei ist in Aufruhr. Während in den westtürkischen Metropolen in die Infrastruktur investiert wird, bleiben der Süden und Osten abgehängt. Keine Straßen, keine Wasser- und Stromzufuhr. Weder investiert der Staat in die Bildung noch in die Gesundheitsversorgung der mehrheitlich kurdischen und oder alevitischen Bevölkerung. Im Osten ziehen die Frauen wie Ochsen mit bloßer Körperkraft schweres Gerät über die Felder. Im Westen ziehen sich die Frauen zur Cocktailzeit Pumps an und schwenken Drinks in schweren Gläsern. Auch die Türkei hatte ein 1968. Eine linke Bewegung, die gegen Feudalismus, für Bürgerrechte für Minderheiten und die Arbeiterklasse kämpfte. Die Studenten solidarisieren sich mit der Dorfbevölkerung. Die Kapitalismuskritik bezieht sich auf Banken, Konzerne und Holdings, auch auf Großgrundbesitzer. Die Kurden treten für ihre Freiheitsrechte ein, Aleviten für das Recht, lehren und praktizieren zu dürfen, Studenten lesen Marx oder drehen Filme, man nimmt genau wahr, was in Europa, vor allem in Frankreich, an politischen Theorien in Umlauf ist.
Immer tragen Aleviten, Kurden oder linke Lehrer Schuld
Gleichzeitig ist eine immense Propagandamaschine in Gang gesetzt, die Mitbürger zu Feinden erklärt. Beispielsweise hetzten Imame in ihren Predigten in Moscheen gegen Aleviten. Die rechtsradikalen Kräfte schafften es, die Geschichte zu verbreiten, dass die Aleviten gemeinsam mit den Linken als Nächstes die Moscheen stürmen würden. Es gibt Chaos überall, hier ein Auflauf, dort ein Angriff, Demonstrationen eskalieren, nie kennt man die Urheber, aber die türkisch-sunnitische Mehrheitsbevölkerung ist sich sicher, es stecken entweder Aleviten, Kurden oder linke Lehrer und Künstler dahinter.
Unter den Linken befinden sich auch Kommunisten, zumindest nennen sich einige Linke so, die den Staatsislam und seine Institutionen infrage stellen. Ein alevitischer Glaubensgrundsatz lautet, man betet nicht auf Knien, sondern mit dem Herzen. Auf Knien beten türkische Sunniten, es ist die Zeit der Goldwaagen. Jede Silbe, ob von Antikapitalisten, Kurden, Linken oder Aleviten, kann antitürkisch gelesen werden. Umgekehrt gibt es Rassisten, die eine muslimische Türkei als politisches Programm verteidigen. Eine muslimische Türkei nur mit Türken angesichts der eben aufgezählten Gruppen wäre eine sehr kleine Türkei. Aber die paar Faschisten, Rassisten, Nationalisten und anderen Verblendeten schaffen es, die ganze Türkei in bürgerkriegsähnliche Zustände zu versetzen.
Im April 1978 wird also der alevitische Geistliche Sabri Özkan ermordet. Bis zum Winter eskalieren die Unruhen, Aleviten werden angegriffen, eine Bombe in einem von Aleviten besuchten Café gezündet, eine Beerdigung von zwei alevitischen Lehrern, die von ihren rechtsextremen Schülern ermordet werden, wird gestört. Dann das Pogrom am 20. Dezember. Es zieht sich über mehrere Tage hin. Anhänger und Mitglieder der rechtsextremen MHP (eine bis heute im Parlament vertretene Partei) und andere Nationalisten überfallen im Namen der Nation, der Fahne, des Vaterlandes, aus Gründen einer Ideologie, die Menschen hierarchisiert, die mit einem roten X gekennzeichneten Häuser. Das rote X, so vermutet man heute, blieb von einer Volkszählung zurück, bei der man überall dort markierte, wo man Aleviten vermutete. Genau weiß man es nicht. Die Hausinsassinnen werden vergewaltigt, Kinder misshandelt, es gibt Tote. Häuser und Arbeitsstätten werden zerstört. Die Regierung schickt erst nach drei Tagen Sicherheitskräfte. Türkische Quellen sprechen von 120 Toten, das deutsche Wikipedia von 111, die alevitische Gemeinde von 1.000 Toten.
Nur die ganz großen Gräuel bleiben im Gedächtnis
Es ist wie so oft in der Türkei. Prozesse finden entweder nicht statt oder finden statt und die Täter kommen frei, immer werden sie Jahrzehnte später geführt und immer weicht die offizielle Version von der Version der Dorfbewohner ab. Ein Urteil über Kahramanmaraş wird gesprochen, doch das Massaker an den Armeniern von 1915, das sich in der gleichen Stadt ereignete, ist bis heute nicht aufgearbeitet. Obwohl die Vernichtung der Armenier mit Beihilfe der Deutschen geschah und auch deshalb besonders gut dokumentiert wurde.
Irgendwann gewöhnen sich die Bürger daran, die historischen Fakten gemäß ihren politischen Interessen zu filtern. Auch denkt man nie in historischen Kontinuitäten. Zumindest in der Türkei gilt das schon längst. Obwohl sich die Opfergruppen – Aleviten, Kurden, Armenier – unterscheiden, nicht aber die politischen Motive der Täter, gelingt es jedes Mal, dass sich eine Begründung in der Mehrheitsgesellschaft durchsetzt, bei der anschließend die Opfer Schuld an ihrer Vernichtung tragen. Die Armenier kollaborierten mit den Russen, die Kurden sind Terroristen, die Aleviten verbünden sich mit gottlosen Kommunisten. Es finden sich auch immer Historiker, die das nachzuweisen wissen.
Das Pogrom von Kahramanmaraş soll hier nur als Exempel erzählt werden. Es ist kein singuläres Ereignis. 1993 ereignete sich ein ähnliches Pogrom in Sivas. Rechtsextreme Aktivisten und Bewohner zündeten eine Kongresshalle mit Aleviten und Linken an und schauten unter Gejohle und Applaus zu, wie die Teilnehmer verbrannten. Erneut das gleiche Muster. Erst als Kongressteilnehmer bei lebendigem Leib verbrannten und das Hotel, in dem die Tagung stattfand, in Schutt und Asche lagen, rückten die Sicherheitskräfte an. Das Pogrom wurde bis dahin stundenlang live im Fernsehen übertragen.
Überhaupt bleiben nur die ganz großen Gräuel der Allgemeinheit im Gedächtnis. Wenn täglich Angriffe stattfinden, verliert das einzelne Ereignis an Bedeutung. Man ist allenfalls dann noch empfänglich, wenn die Opferzahl besonders hoch ist oder die Details des Attentats besonders brutal. Wenn man zum ersten Mal davon hört, dass Kinder angezündet wurden, dann ist jedes weitere Kind, das brennt, nur noch ein weiteres Kind, das brennt. Die Öffentlichkeit ist erschöpft angesichts der Fülle von „Vorfällen“. Im Rückblick erkennt man den Anfang der Eskalation, aber wenn man mittendrin ist, passen sich Körper und Geist an die gesellschaftliche Stimmung an. Der innere psychische und äußere politische Ausnahmezustand werden zum Normalzustand.
Eine Geschichte ereignete sich in der Nähe von Bingöl. Eine Stadt umgeben von Bergen an einem Nebenfluss des Euphrat. Wir stecken jetzt tief in den Achtzigerjahren. Mittlerweile hat bereits der dritte Putsch stattgefunden. Nach Diyarbakır steht in Bingöl das andere berühmte Gefängnis, das für seine raffiniert-grausame Folter von politischen Gefangenen bekannt ist. Eine Großmutter, ihre verheirateten Kinder und deren Kinder finden an einem Morgen ein rotes X an ihrer Hauswand. Das sieht der sunnitische Nachbar. Er ist entsetzt darüber, dass die Leute nebenan bedroht werden. Er nimmt sein Gewehr aus dem Schrank und klopft am Abend bei seinen Nachbarn. Sie öffnen ihm die Tür. Er sagt: „Ich bleibe die ganze Nacht bei euch.“ Er zieht die Schuhe aus und setzt sich in die Mitte des Wohnzimmers. Sein Gewehr stellt er so ab, dass er sich daran lehnen kann. Er sagt: „Als Erstes müssen sie mich treffen.“
Mitstreiter im Machtapparat
Auch das passierte: dass in den Häusern von Aleviten sunnitische Nachbarn saßen und bereit waren, die erste Kugel abzubekommen. Nachbarn versteckten einander in hohlen Baumstümpfen. Man nahm Kinder in die eigene Familie auf, um sie vor der Deportation zu bewahren. Auch das ist Menschheit und Menschlichkeit. Sie schiebt sich wie die Dämmerung ins Dunkle.
Natürlich stellt sich die Frage nach der Polizei. Es ist ja deren Aufgabe, für Schutz und Ordnung zu sorgen. Es hatte sich in der Türkei, man kann sich das in einem Deutschland der heutigen Zeit sicher besser vorstellen als noch vor 30 Jahren, ein System etabliert, das mit den rechtsextremen Umtrieben sympathisierte. Völkisch-nationalistisches Denken ist das Wesen des Faschismus. Es kann nur dann um sich greifen, wenn sich Mitstreiter im Machtapparat finden. Und die fanden sich noch immer bei der Polizei der diversen türkischen Regierungen, im Geheimdienst, Innenministerium oder in der Justiz. Der Staat wird aus der Perspektive der in der Türkei lebenden Minderheiten und der Oppositionellen, die für Freiheit und Demokratie ohne Rassismus kämpfen, nicht als Schutz wahrgenommen, sondern als Bedrohung. Irgendwann kann der Bürger keine Notrufnummer mehr anrufen, keine Anzeige erstatten, denn was dann folgt, ist das größere Übel.
Manchmal hat man Glück. Obwohl man bedroht wurde. Dann klopft es und der Nachbar setzt sich ins Wohnzimmer. Oder auf die Terrasse. Und sagt: „Das geschieht nicht in meinem Namen.“ Egal ob in Kassel oder Kahramanmaraş, in Sivas oder Solingen, in Bingöl oder Berlin.
19 Juni 2019